Mach mal langsam

Brooklyn Noise

No Sleep Till Brooklyn - Eldorado für Noisebands (Sightings, Oneida, Black Dice)

  Es war kurz nach dem 11. September. Ein Abend in Brooklyn. Dicke Fahnen schwarzen Rauchs krochen immer noch über den Himmel auf uns zu. Ich dachte an Beckett's Molloy: „Ich kann nicht weiter. Ich muss weiter.“

 

  Wir waren da auf Grund von Mundpropaganda oder Flyer oder seltsamen Mails. Leute gingen die Straße rauf und runter und fragten sich, ob der Veranstaltungsort irgendwo in der Nähe ist. Kein richtiger Klub, wie sich rausstellt, sondern ein Loft in einem 3. Stock mit einer Tür zum Dach und einer provisorischen Bar. Die Liste mit den Bands ist auf ein Papier gekritzelt, das neben der Tür hängt und trotzdem fragst du dich die ganze Zeit, wen du gerade hörst. Die lokalen Lieblinge Oneida sollen da sein und die japanischen Psychoexperten Acid Mothers Temple, aber die Auftrittszeiten sind fließend, bestenfalls.

 

  Es stellt sich heraus, dass die Liste mit den Bands auch fließend ist. Die erste Gruppe soll Black Dice sein. Da es keine Bühne im eigentlichen Sinn gibt, haben sich 3 Figuren in einer Ecke mit ein paar Lautsprechern aufgestellt. Sie fangen an herumzufuchteln, als sich ein paar Leute um sie scharen. Welle auf Welle mörderischen Lärms geht auf sie nieder, einige verziehen sich aufs Dach. Ein paar tapfere Seelen kommen zurück, mit selbstgebastelten Ohrenstöpseln. Aber das hilft ihnen nichts. Es ist immer noch zu hart. Eine Person zieht ihren Ohrschutz raus und stellt fest, dass am Ende ein Tropfen Blut dran ist. Ein anderer Besucher versucht, seinen Brechreiz zurückzuhalten, zuletzt vergeblich. Gitarrist Alan Licht beobachtet stoned den Ablauf, ohne erkennbares Gefallen oder Missfallen.

 

Mich hat es sofort begeistert. Ich hatte keine Band mehr gesehen, die mit ihrem Auftritt eine solche negative Atmosphäre schafft, seit ich Half Japanese erlebt hatte, als sie als Opener für Nirvana fast von der Bühne runtergebuht wurden, als sie mit Genuss ihr „U.S. Teens Are Spoiled Bums“ heulten - „Amerikanische Teens sind verwöhnte Ärsche“.

 

  Wochen später fand ich heraus, dass Black Dice gar nicht aufgetreten sind, weil ihr Sänger nicht in der Stadt war. Was ich erlebt habe war ein weiteres lokales Phänomen, für das sich New Musical Express und andere außenstehende Zeitungen mit Sicherheit nicht so begeistern werden wie für die Strokes oder Moldy Peaches. Und wer war dann die Band?

 

Die Band, die der Autor David Manning 2001 in Brooklyn erlebte, war Sightings. Deren Gitarrist Mark Morgan sagt: „Unsere Maxime war immer: Egal was wir spielen, es muss immer mit totaler Energie sein.“

 

Bei Radio Mao geht es heute um die Noise-Szene in Brooklyn, dem größten und bevölkerungsreichsten Borough New Yorks. Alle 3 Bands, um die es heute geht – neben Sightings noch Oneida und Black Dice – haben sich etwa zur selben Zeit, nämlich Ende der 90er gebildet. Das war auch die Zeit, als Bands wie Animal Collective, LCD Soundsystem oder Erase Erata entstanden, zeitgleich mit dem sogenannten Anti-Folk.

 

Uns soll es heute ausschließlich um die Bands gehen, die sich dem Songformat und damit jeglichem Erfolg verweigerten. Black Dice mit Seabird von ihrer 2003 erschienenen LP Beaches & Canyons.

 

Begonnen hatten Black Dice mit einem aus der John-Zorn-Schule hervorgegangenen Hardcore-Punk. Kaum ein Song war länger als eine Minute, Rhythmus und Melodie wurden streng vermieden. Intensität war da nicht nur Resultat weit aufgedrehter Verstärker, sondern einer konsequenten Atonalität.

 

Martin Büsser schreibt 2005 in seinem Beitrag „Befreite Klänge“:

 

Black Dice sind kein isoliertes Phänomen, sondern Teil einer neuen Generation amerikanischer Musiker, die Kollektivimprovisation als Politikum wiederentdeckt haben und so den Free Jazz aus seiner vielbeschworenen Krise führen, indem sie dessen Verfahren aufgreifen, ohne jedoch Free Jazz zu spielen.“

 

Die Idee dessen, was BLACK DICE durchaus politisch beabsichtigt machen, ist nicht neu, sehr wohl aber das musikalische Ergebnis. Schon in den 1960er Jahren arbeitete das britische Improvisationsensemble AMM an einer dem Free Jazz entlehnten Entfesselung der Klänge, die nicht auf Solisten, sondern auf kollektiv erarbeiteten Texturen aufbaute. Für AMM stellte dies die einzig musikalisch legitime Form einer sozialistischen Herangehensweise an Musik dar. Ob sich auch noch BLACK DICE als Sozialisten ansehen, ist ungewiss. Dem eindeutigen Protestsong stellen sie die materialästhetische Abweichung entgegen – mit allen sich daraus ergebenden ökonomischen Konsequenzen.

 

Aaron von Black Dice sagt in einem Interview über die Situation in New York:

 

Im Moment gibt es hier jede Menge gute Freunde von uns, die aufregende Musik spielen. All diese Bands haben dieselbe Situation vor Augen: Sie investieren ihre ganze Zeit und ihr ganzes Geld in etwas, von dem man nicht gerade behaupten kann, dass es eine große öffentliche Resonanz erfährt. Für uns ist es sehr motivierend zu sehen, dass wir nicht die Einzigen sind, die sich mit dem, was sie machen, nicht mal ihr Essen finanzieren können.“

 

In einem Interview, das ich kürzlich mit Wolfgang Seidel, Musiker, Autor und Grafiker in Berlin, geführt habe, äußert dieser, dass eine Band so eine komische Form von Kleinunternehmertum ist. Kaum dass man ein Produkt hat, das sich verkauft – soll heißen, ein Song, der einigermaßen ankommt - wird dieser Song endlos gespielt. Als Künstler käme man gar nicht auf den Gedanken, einen Song ewig zu reproduzieren. Man malt ja auch nicht dasselbe Bild zwei mal.

 

Die Noiseszene in Brooklyn kann Seidel jedenfalls nicht meinen. Gemeinschaftliches Musizieren erscheint hier als kultische Handlung und steht für ein Gegenmodell des Corporate America: für soziale Verbindlichkeit und die Sorge um andere. Demnach zählt auch weniger das Endergebnis, wie es sich im Produkt des Tonträgers manifestiert – das würde nur der üblichen Konsumhaltung in die Hände spielen, schreibt Olaf Karnick in der Neuen Zürcher Zeitung.

 

No Sleep Till Brooklyn, mit seinem speziellen Klima für Noisebands.

 

Zurück zu den Ohrenblutern von Sightings.

 

Die 3. Band im Brooklyn-Bunde ist Oneida. Aufmerksam wurde ich auf das Quintett über die Doppel-CD Tradi-Mods vs Rockers. Das auf Congotronics, also auf elektrisch verstärkte Musik aus Kongo spezialisierte britische Label Crammed Disc hat die Aufnahmen von Konono Nombre One und der Kasai Allstars von unterschiedlichsten Musikern und Bands aus Europa und den USA bearbeiten lassen. Für die Nummer 1 unter den Remixes: Nombre One von Oneida:

 

Die Noise-Connection aus Brooklyn.

 

Was auffällt, ist die Gender-Ausrichtung all dieser Bands:

 

Zum Abschluss noch mal ein längeres Stück von Oneida – von ihrer gerade bei Jagjaguwar erschienenen LP „A List of The Burning Mountains.

 

Oneida, das sind kakophonische Hybride aus Kraut, Techno, Noise, Jazz, Minimal Music und Elektronik. Sie zitieren diese ganzen Genres und Künstler aber nicht nur, sondern gehen darüber hinaus.

 

 

Dein Kommentar

Email:
BesucherInnen-Kommentare